OVG Sachsen, Beschluss vom 16.07.2012, 3 A 663 / 10

children-403582_1920Worum ging es?

Das Sächsische Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) regelt die Vorgehensweise der Behörden in Sachsen. Es gilt grundsätzlich für alle staatlichen Behörden. Darin (§ 2 Abs. 1) steht aber auch, dass es für den Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) nicht gilt. In den meisten Ländern sind die Rundfunkanstalten vom Anwendungsbereich des VwVfG ausgenommen.

Nun war die Frage zu klären, ob eine bestimmte Vorschrift des VwVfG, nämlich die in § 53 vorgesehene Verjährungshemmung bei bestimmten Ansprüchen, trotzdem anwendbar ist.

Was besagt das Urteil?

Das Urteil hat § 2 Abs. 1 des sächsischen VwVfG dahin ausgelegt, dass der Ausschluss nur für die Kerntätigkeit des Rundfunks gilt. Die Programmgestaltung soll also nicht nach den auf Behörden zugeschnittenen Regeln des VwVfG erfolgen. Dort, wo der MDR aber wie eine normale Behörde handelt, also z.B. bei der Beitragserhebung, soll es auf diese Ausnahme nicht ankommen und das VwVfG ganz normal gelten.

Kann ein Gericht einfach so den Wortlaut eines Gesetzes ändern?

Der Wortlaut wird nicht geändert, denn er bleibt ja erhalten. Allerdings wird der Wortlaut tatsächlich nicht ganz eins zu eins angewandt, sondern man nimmt bestimmte Konstellationen von ihm aus. Dies wird als teleologische Reduktion bezeichnet. Der Telos (Sinn und Zweck) des Gesetzes wird also über den eigentlichen Wortlaut gestellt. Damit muss die Rechtsprechung aber grundsätzlich sehr vorsichtig sein, da sie so in die Aufgaben des Gesetzgebers eingreift.

Welche Regeln sind im Bereich des Sendebetriebs anzuwenden?

Dazu äußert sich das Urteil nicht, hier werden nur die internen Regelungen des Senders gelten.

Gilt das Urteil in allen Bundesländern?

Ein Urteil gilt grundsätzlich nur zwischen den Beteiligten. Auf andere Fälle, auch in anderen Bundesländern, ist es aber prinzipiell übertragbar. Allerdings haben andere Gerichte diese Frage auch schon anders beurteilt.

Gilt das Urteil auch nach der GEZ-Reform ab 2013 noch?

Ja, an den Prinzipien der Rundfunkverwaltung und am Wortlaut des VwVfG hat sich durch die neuen Rundfunkstaatsverträge und die Umstellung von Gebühren auf Beiträge nichts geändert.

Welche Regeln sind im Bereich der Verwaltungstätigkeit anzuwenden, wenn man anderer Meinung ist als das OVG Sachsen?

Das ist höchst fraglich. Teilweise wird eine analoge Anwendung der entsprechenden Regeln befürwortet. Andererseits könnte man auch auf verwaltungsrechtliches Gewohnheitsrecht zurückgreifen, das schon galt, bevor die verschiedenen VwVfG erlassen wurden. Dies stimmt im Wesentlichen mit dem überein, was mittlerweile auch im Gesetz steht.

Möglicherweise könnte man aber auch nur auf das zurückgreifen, was in den Rundfunkstaatsverträgen steht. Das wäre dann aber nicht viel und würde enorme Lücken reißen. Sollte sich die übrige Rechtsprechung also anders entscheiden als das sächsische OVG (und jedes Gericht ist grundsätzlich frei in seinen Urteilen), so könnte die ganze Materie durchaus interessant werden.

Ändert das Urteil etwas an der Beitragspflicht?

Nein, damit hat es nichts zu tun. Die Beitragspflicht ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz, auch ohne jedes Verwaltungsverfahren.

Ändert das Urteil etwas an der Vollstreckung von Beiträgen?

An der Vollstreckung an sich nicht, da sich diese nach dem Verwaltungsvollstreckungsgesetz des Landes richtet, nicht nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz. Allerdings ist eben der hier in Frage stehende § 53 VwVfG von Bedeutung, da nur darüber die Verjährung der Rundfunkbeiträge durch Erlass eines Festsetzungsbescheids verhindert werden kann.

Der Wortlaut des Urteils:

Der Anwendbarkeit von § 53 VwVfG steht § 2 Abs. 3 SächsVwVfG nicht entgegen, wonach das Verwaltungsverfahrensgesetz – abweichend von dem in § 1 SächsVwVfG geregelten Grundsatz der entsprechenden Anwendung – für die Tätigkeit des Mitteldeutschen Rundfunks nicht gilt. Diese Vorschrift hindert die Anwendung des Verwaltungsverfahrensgesetzes nicht, weil sie nach dem Normzweck einschränkend dahin auszulegen ist, dass sie sich auf den Kernbereich der Rundfunkfreiheit bezieht, in dem Rundfunk in Unabhängigkeit und Staatsferne gewährleistet ist, nicht aber auf Bereiche, in denen die Rundfunkanstalt – wie hier bei der Gebührenerhebung – typische Verwaltungstätigkeit ausübt. Dies hat der Senat mit Beschluss vom 22. März 2012 (3 A 28/10) bereits zu §§ 41, 48 und 49 VwVfG entschieden und hieran hält er zu § 53 VwVfG auch mit Blick auf die Rügen der Klägerin fest.

Die teleologische Reduktion einer Norm stellt per se keine Auslegung unter Verstoß gegen ihren Wortlaut dar. Für sie streitet vorliegend schon der Grundsatz, dass Ausnahmevorschriften restriktiv auszulegen sind. Der Sinn und Zweck ist auch zweifelsfrei der Entstehungsgeschichte der Vorschrift zu entnehmen. So hat bereits der 2. Senat des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts in dem von der Klägerin zitierten Beschluss vom 9. Oktober 1997 (2 S 265/95) auf den Bericht des Innenausschusses des Sächsischen Landtages (LT-Drs. 1/2580, S. 1) hingewiesen, nach dem das Verwaltungsverfahrensgesetz nach der Ausnahmevorschrift des § 2 Abs. 3 des Gesetzentwurfs für die Tätigkeit des Mitteldeutschen Rundfunks nicht gelten sollte, weil er ein Tendenzbetrieb sei und Art. 5 GG für diesen ein justizförmig ausgeprägtes Verwaltungsverfahren verbiete.

Soweit der 2. Senat, der die Frage seinerzeit offenlassen konnte, als mögliches Gegenargument angeführt hat, dass der Wortlaut der Ausnahmevorschrift des § 2 Abs. 3 SächsVwVfG im Gegensatz zu der dem Landesgesetzgeber bei Erlass wohl bekannten Vorschrift des § 118 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG keine Unterscheidung nach der Tendenzbezogenheit enthalte, zwingt dies nicht zu der Annahme, dass der Landesgesetzgeber die gesamte und nicht nur die grundrechtsrelevante Tätigkeit des Beklagten von dem Verwaltungsverfahrensgesetz ausnehmen wollte. Da sich sein gegenteiliger Wille aus der Entstehungsgeschichte ergibt, ist vielmehr anzunehmen, dass er die Ausnahmevorschrift auch ohne ausdrückliche Unterscheidung wie in § 118 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG für hinreichend klar hielt.

Ernstliche Zweifel im Sinne eines aufgrund des Zulassungsvorbringens ungewissen Verfahrensausgangs liegen auch nicht deshalb vor, weil einige Oberverwaltungsgerichte bei der Auslegung von dem Wortlaut des § 2 Abs. 3 SächsVwVfG vergleichbaren Ausnahmevorschriften einen anderen Ansatz verfolgen. Soweit etwa der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Beschl. v. 19. Juni 2008 – 2 S 1431/08 -, juris Rn. 5) eine teleologische Reduktion ablehnt, beruht dies auch darauf, dass sich ein Sinnzusammenhang mit der verfassungsrechtlich gewährleisteten Rundfunkfreiheit dem dort maßgeblichen Gesetzentwurf nicht entnehmen lässt.

Im Übrigen liegt – soweit ersichtlich – keine obergerichtliche Rechtsprechung vor, die im Ergebnis zu einer Nichtanwendung des (Rechtsgedankens des) § 53 VwVfG gelangen würde. Die genannte Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg sowie die von der Klägerin zitierte Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Beschl. v. 14. Juli 2010 – 16 A 49/09) betreffen die Nichtgeltung des § 80 Abs. 1 VwVfG bzw. der entsprechenden landesrechtlichen Norm in Rundfunkgebührenstreitigkeiten. Dabei gehen beide Gerichte davon aus, dass aufgrund der lückenhaften Regelung des Rundfunkgebührenrechts ein Rückgriff auf das Landesverwaltungsverfahrensgesetz insoweit möglich ist, als in ihm allgemeine rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze zum Ausdruck kommen können (ebenso Kopp/Ramsauer, VwVfG, 12. Aufl. 2011, § 2 Rn. 1; Schliesky, in: Knack/Hennecke, VwVfG, 9. Aufl., § 2 Rn. 6).

Die Verneinung eines solchen Rückgriffs für § 80 VwVfG sagt nichts darüber aus, wie für § 53 VwVfG zu entscheiden wäre (vgl. auch OVG NW, Urt. v. 29. April 2008 – 19 A 368/04 -, juris Rn. 32 zur befürworteten Anwendung des §§ 48 und 49 VwVfG im Rundfunkgebührenrecht). Im Übrigen ziehen andere Obergerichte bei vergleichbarer Ausnahmevorschrift wie § 2 Abs. 3 SächsVwVfG die Verjährungsregel des § 53 VwVfG bzw. die entsprechende Landesnorm im Rundfunkgebührenrecht ausdrücklich heran (HessVGH, Beschl. v. 29. November 2011 – 10 A 2128/20.Z -, juris Rn. 34; OVG Saarland, Beschl. v. 7. November 2011 – 3 B 371/11 -, juris Rn. 7; OVG BerlinBrandenburg, Beschl. v. 19. März 2012 – OVG 11 N 27.10 -, juris Rn. 5).

(Absätze und Hervorhebungen durch den Bearbeiter.)

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