Akdag gegen die Türkei – Art. 6 EMRK
Türkische Behörden ignorierten die Tatsache, dass eine Verdächtige in Polizeigewahrsam ihr geltendes Recht auf einen einen Rechtsanwalt nicht in Anspruch genommen hatte
Im heutigen Urteil der Kammer im Fall Akdag v. Türkei (Antrag Nr. 75460/10) hielt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einstimmig Folgendes fest:
Es bestand eine Verletzung des Artikels 6 Abs. 1 und 3 c (Recht auf eine faire Verhandlung / Recht auf einen Rechtsbeistand) des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.
Der Fall betraf die Kontaktaufnahme zu einem Rechtsanwalt während des Polizeigewahrsams. Die Antragsstellerin behauptete sie habe gestanden, ein Mitglied einer illegalen Organisation zu sein, nachdem sie von der Polizei bedroht und misshandelt worden sei ohne dass ihr dabei die Kontaktaufnahme zu einem Rechtsanwalt gewährt worden war.
Zwar wies das Gericht die Beschwerde der Antragsstellerin in Bezug auf deren Verurteilung – die zustande kam wegen der angeblich unter Polizeidruck erwirkten Aussagen – aus Mangel an Beweisen bezüglich der Misshandlung als unzulässig ab, befand aber, dass die Regierung es versäumt habe, auf ein sich auf dem Formblatt befindliches gedrucktes „X“ neben „kein Rechtsanwalt benötigt“ hinzuweisen, was zur Folge hatte, dass die Antragsstellerin auf ihr geltendes Recht, einen Anwalt während ihrer In-Gewahrsam-Nahme zu konsultieren, verzichtete. Tatsächlich zog sie ihre Aussagen zurück, sobald sie nach Beendigung ihrer In-Gewahrsam-Nahme einen Rechtsanwalt in Anspruch genommen hatte.
Der Europäische Gerichtshof war auch nicht mit dem Urteil des nationalen Gerichts einverstanden in Bezug auf die Beschwerde der Antragsstellerin. Es waren weder die Gültigkeit des Verzichts auf einen Rechtsbeistand geprüft worden noch die Aussagen, die sie im Beisein der Polizei gemacht hatte. Selbst durch jegliche andere prozessuale Schutzmaßnahmen war solch eine unterlassene Überprüfung aufgewogen worden und alles in allem war die Fairness der Verhandlungen gegenüber der Antragsstellerin dementsprechend nicht vorurteilsfrei.
Grundlegende Fakten
Die Antragsstellerin, Hamdiye Akdag, ist türkischer Staatsangehörigkeit und wurde 1974 geboren. Als ihr Antrag vorgebracht wurde, verbüsste sie eine Haftstrafe wegen Zugehörigkeit zu einer illegalen Organisation, der PKK/KADEK (der kurdischen Arbeiterpartei).
Frau Akdag wurde nahe ihre Wohnstätte im November 2003 inhaftiert und zur Befragung für vier Tage in Polizeigewahrsam gehalten. Während dieser Zeit gab sie zu, ein Mitglied der PKK/KADEK zu sein und lieferte eine detailierte Aussage bezüglich ihrer Mitgliedschaft und ihres Trainings, das sie in der illegalen Organisation erhalten hatte. Sie wurde nicht durch einen Rechtsanwalt unterstützt, nachdem „kein Rechtsbeistand benötigt“ mit einem gedruckten „X“ auf ihrem Formblatt zu lesen war.
Sie zog jedoch ihre Aussagen gegenüber der Polizei sofort zurück, als sie dem Staatsanwalt und dem Ermittlungsrichter am Ende ihrer In-Gewahrsam-Nahme gegenüber stand und es wurde ihr gestattet, einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen. Auch wurde sie von einem Arzt untersucht, dem sie mitteilte, dass die Polisten sie auf den Kopf geschlagen und ihr gedroht haben, sie zu verwaltigen und umzubringen.
Sie blieb bei dieser Aussage vor dem Amtsgericht (trial court?), da sie angeblich gezwungen worden war, ihre Aussage gegenüber der Polizei zu unterzeichnen und ohnehin Analphabetin war. Schließlich wurde sie für schuldig gesprochen bezüglich der Mitgliedschaft einer terroristischen Organisation im Jahr 2009 und zu einer Gefängnisstrafe von sechs Jahren und drei Monaten verurteilt. Das Gericht stützte sein Urteil auf die Aussagen, die sie gegenüber der Polizei gemacht hatte. Der Kassationsgerichtshof hielt das Urteil im Jahr 2010 aufrecht.
In der Zwischenzeit hatte Frau Akdag eine formale Beschwerde bezüglich der Misshandlungen seitens der Polizei eingereicht, aber die zuständigen Behörden entschieden sich dafür, den Fall aufgrund Mangel an Beweisen nicht weiter zu verfolgen.
Beschwerden, Verfahren und Zusammensetzung des Gerichts
Gemäß Artikel 6 §§ 1 und 3 c (Recht auf eine faire Verhandlung / Inanspruchnahme eines Rechtsanwalts) beschwerte sich Frau Akdag darüber, dass die gegen sie geführten Verhandlungen rechtswidrig gewesen waren, da ihr in polizeilichem Gewahrsam das Recht auf Inanspruchnahme eines Anwalts abgesprochen worden war. Ferner behauptete sie, dass sie aufgrund der Aussagen verurteilt wurde, die sie unter Zwang und ohne Unterstützung eines Anwalts gemacht hatte.
Der Antrag wurde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte am 22. November 2010 gestellt.
Das Urteil wurde von einer Kammer bestehend aus sieben Richtern gefällt:
(Namen im Original aufgeführt)
Gerichtsurteil
Die Regierung vertrat die Ansicht, dass es zur Zeit von Frau Akdags Infaftierung in der Türkei keine pauschale Beschränkung in Bezug auf die Inanspruchnahme eines Anwalts während eines Polizeigewahrsams für Angeklagte gab, die sich in der Zuständigkeit der Gerichtsbarkeit des Staatssicherheitsgerichtshofs befanden. Zu jener Zeit war es deshalb für solche Verdächtige möglich gewesen, einen Anwalt hinzuzuziehen, wenn dies seitens der Verdächtigen gewünscht gewesen wäre. Frau Akdag hatte auf ihrem Formblatt angegeben, keinen Rechtsbeistand zu benötigen. Die Regierung brachte deshalb vor, dass Frau Akdag rechtsgültig auf ihr Recht auf einen Anwalt verzichtet habe, als sie ihre Aussagen gegenüber der Polizei machte.
Der Gerichtshof war andererseits der Ansicht, dass es gewichtige Anzeichen gegen die Annahme gab, dass Frau Akdag auf das Recht der Inanspruchnahme eines Anwalts verzichtet hatte. Erstens hatte sie sofort ihre Aussage gegenüber der Polizei zurückgezogen, sobald sie einen Anwalt eingeschaltet hatte – sowohl vor dem Staatsanwalt und dem Untersuchungsrichter – und diese Position auch weiterhin vor dem Prozessgericht (trial court?) aufrecht erhalten.
Des Weiteren hatte es keine handschriftlich Anmerkung auf ihrem Formblatt gegeben, nur ein gedrucktes „X“ neben dem gedruckten „kein Rechtsanwalt benötigt“. Auch hatte das Prozessgericht (trial court?) keine Untersuchung angestrengt, ob Frau Akdag tatsächlich Analphabetin ist, wie sie behauptet hatte.
Außerdem hatte die Regierung nicht dargelegt, dass Frau Akdag im Besonderen über die Konsequenzen aufgeklärt worden war, die sich daraus ergaben, auf rechtlichen Beistand zu verzichten.
Der Europäische Gerichtshof war deshalb der Meinung, dass es die Regierung versäumt habe, Frau Akdag darüber aufzuklären, dass sie rechtskräfig auf einen Anwalt verzichtet habe – inklusive der damit verbundenen Konsequenzen – als sie ihr Aussage gegenüber der Polizei gemacht habe.
Die Regierung hatte es auch versäumt, jegliche zwingenden Gründe anzuführen, um die Verweigerung auf Inanspruchnahme eines Anwalts während des polizeilichen Gewahrsams von Frau Akdag zu rechtfertigen – so beispielsweise eine bevorstehende Bedrohung von Leben, Freiheit oder körperlicher Unversehrtheit.
Zu guter letzt war der Gerichtshof – trotz der Tatsache, dass Frau Akdag während der gesamten Verhandlung von einem Rechtsanwalt vertreten worden war – nicht davon überzeugt, dass sie in der Lage gewesen war, die Beweisführung wirksam anzufechten, die dazu führte, dass sie schuldig gesprochen und verurteilt wurde. Insbesondere hatten die nationalen Gerichte keinerlei Überprüfung durchgeführt – weder in Bezug auf den Verzicht auf einen Rechtsbeistand noch in Bezug auf die Aussagen, die sie ohne Anwalt gegenüber der Polizei gemacht hatte. Die fehlende Überprüfung war nicht durch andere prozessuale Schutzmaßnahmen aufgewogen worden, was das ganze Verfahren der Antragsstellerin rechtswidrig macht.
So war es zu einem Verstoß gegen Artikel 6 §§ 1 und 3 c gekommen.
Der Europäische Gerichtshof erklärte Frau Akdags Beschwerde bezüglich ihrer Aussagen gegenüber der Polizei, die sie angeblich unter Zwang gemacht hatte, für unzulässig. Der Gerichtshof berücksichtigte dabei, dass sie keine Beweise vorgelegt hatte, die Anlass zu der Annahme hätten geben können, dass sie während des Polizeigewahrsams misshandelt worden war. Zwei gerichtliche Gutachten in ihren Akten, die sie weder vor den nationalen Gerichten noch dem Europäischen Gerichtshof angefochten hatte, wiesen auf keinerlei Zeichen körperlicher Gewalt hin. Des Weiteren hatten die Strafverfolgungsbehörden entschieden aus Mangel an Beweisen den Fall nicht weiter zu verfolgen.
Gerechte Entschädigung (Artikel 41)
Der Europäische Gerichtshof befand, dass der bewiesene Verstoß selbst schon eine ausreichend gerechte Entschädigung für den unpekuniären Schaden darstellt, der der Antragsstellerin widerfahren ist.
Andere Meinungen
Richter Bosnjak und Richter Yüksel vertraten eine übereinstimmende Meinung, die an das Urteil angehängt ist.