Das Staatshaftungsrecht ist noch immer eine weitgehend unkodifizierte Materie: Es gibt kaum Gesetze dazu. Die komplexen und teilweise sehr unterschiedlichen Sachverhalte werden alle anhand einiger weniger Normen in Grundgesetz, BGB und (man höre und staune!) Allgemeinem Preußischem Landrecht gelöst. Darum hat sich hier eine große Menge an Richter- und Gewohnheitsrecht gebildet, die auch für Experten kaum noch überschaubar ist.
Einen groben Überblick über das System des deutschen Staatshaftungsrechts finden Sie hier.
Im vorliegenden Fall wurde ein Bürger zu Unrecht einer Straftat verdächtigt und daraufhin von der Polizei – nennen wir es mal so – aufgegriffen. Die Pressemitteilung des BGH formuliert es in dieser Weise:
Da [die Polizeibeamten] vermuteten, der Kläger und dessen Mitarbeiter führten eine Schusswaffe mit sich, forderten sie zur Eigensicherung beide auf, die Hände hoch zu nehmen, brachten sie zu Boden und legten ihnen Handschellen an.
Dabei verletzte sich der Kläger erheblich an der Schulter. Später stellte sich heraus, dass er nichts Verbotenes getan hatte.
Gleichzeitig war die Polizei aber aufgrund der vorliegenden Verdachtsmomente berechtigt, die Identität des Klägers festzustellen, ihn dafür festzuhalten und zu durchsuchen. Die Polizisten haben also nichts falsch gemacht, aber sie haben einen Schaden verursacht.
Allgemein anerkannt ist, dass jemand, der durch eine rechtmäßige staatliche Maßnahme geschädigt wird, einen Ausgleichsanspruch hat. Der Staat darf also in die Rechte des Bürgers eingreifen, wenn er es für notwendig hält, er muss für diesen Eingriff aber entschädigen. Das bezeichnet man als Aufopferungsanspruch, ist gewohnheitsrechtlich anerkannt und wird aus § 75 der Einleitung zum oben schon erwähnten Preußischen Allgemeinen Landrecht gefolgert.
Allerdings ist der BGH seit 60 Jahren der Meinung, der Aufopferungsanspruch würde nur materielle Schäden (hier bspw. einen Verdienstausfall wegen der Verletzung), nicht aber immaterielle Schäden (Schmerzensgeld) umfassen. Nach dem seit Inkrafttreten des BGB bis zum Jahr 2002 geltenden Recht sollte Schmerzensgeld nämlich die Ausnahme sein und nur dort anerkannt werden, wo es einen ausdrücklich niedergeschriebenen Anspruch darauf gäbe. Schmerzensgeld wegen Aufopferung steht aber weder im Allgemeinen Landrecht noch hat es sich auf andere Weise gewohnheitsrechtlich entwickelt.
Seit 2002 wird Schmerzensgeld aber anders behandelt: Schmerzensgeld ist nun ein ganz normaler Anspruch, der gleichberechtigt neben Schadenersatz steht.
Diese Wertung schlägt nach Ansicht des BGH auch auf den Aufopferungsanspruch durch. Für die alte Ansicht, dass Aufopferung nur Sachschäden umfasst, ist demnach kein Platz mehr.
Daher hat der Kläger im vorliegenden Fall auch einen Anspruch gegen den Staat (natürlich nicht gegen den einzelnen Polizisten) auf Schmerzensgeld für seine Verletzung. Wie hoch dieses nun ist, geht aus der Pressemitteilung nicht hervor. Höchstwahrscheinlich hat der BGH das auch gar nicht entscheiden können, da er selbst keine Beweise erhebt und sich die Vorinstanzen zum Ausmaß der Schäden nicht geäußert haben, da dies für sie nicht relevant war – wenn es eh kein Schmerzensgeld gibt, ist es egal, wo hoch es wäre. Daher muss sich wohl das Oberlandesgericht erneut mit der Sache befassen und das angemessene Schmerzensgeld festlegen.