Welches Gericht hat geurteilt?
Es handelte sich um den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag. Dieser wurde von den Vereinten Nationen eingesetzt, um Streitigkeiten zwischen Staaten zu verhandeln.
Teilweise wird das Urteil fälschlich dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zugeschrieben.
Hier das Urteil: www.icj-cij.org (Englisch)
Worum ging es bei dem Urteil?
Im Zweiten Weltkrieg wurden Kriegsverbrechen durch die deutsche Wehrmacht begangen, konkret Zivilisten als Vergeltung für Widerstand aus der Bevölkerung erschossen. Dabei ging es im Wesentlichen um zwei Fälle, nämlich in Civitella (Italien) und Distomo (Griechenland). Hierfür haben Angehörige der Getöteten Schadenersatzansprüche vor italienischen bzw. griechischen Gerichten eingeklagt und Recht bekommen. Zur Durchsetzung dieser Ansprüche wurde die Villa Vigoni, deutsches Eigentum am Comer See, beschlagnahmt. Die Bundesrepublik hat deswegen den italienischen Staat verklagt.
Was hat die Bundesrepublik denn mit dem Dritten Reich zu tun?
Die Völkerrechtswissenschaft geht davon aus, dass Bundesrepublik und Drittes Reich rechtlich identisch sind. Der deutsche Staat besteht demnach ununterbrochen seit 1867 mit der Gründung des Norddeutschen Bunds, der 1871 zum Deutschen Reich erweitert wurde. Alle späteren Regierungsformen (Weimarer Republik, NS-Diktatur) sind nur unterschiedliche Ausprägungen dieses Staates. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg ist das Deutsche Reich nicht untergegangen, sondern bestand ohne einheitliche Staatsgewalt zunächst als besetzter Staat, später als BRD und DDR fort. Seit der Wiedervereinigung gibt es nur noch ein Deutschland, das aber völkerrechtlich immer noch mit dem Deutschen Reich identisch ist. Daher muss die Bundesrepublik auch für alle Verpflichtungen des Deutschen Reichs einstehen.
Sollte man der Untergangstheorie folgen, für die wohl die besseren Argumente sprechen, die aber eine Mindermeinung darstellt, ist Deutschland 1945 untergegangen und die Bundesrepublik wurde 1949 als Nachfolgestaat gegründet, der nicht identisch mit dem Deutschen Reich ist, sondern nur dessen Rechtsnachfolger. Im Endeffekt ergäbe sich kein Unterschied, da auch im Wege der Rechtsnachfolge alle Verpflichtungen übergehen.
Was hat das Gericht entschieden?
Das Gericht hat entschieden, dass Italien
- durch die Zulassung von zivilrechtlichen Klagen gegen die Bundesrepublik deren Staatenimmunität verletzt hat,
- durch die Beschlagnahme der Villa Vigoni die Staatenimmunität der Bundesrepublik verletzt hat,
- durch die Vollstreckung der griechischen Urteile die Staatenimmunität der Bundesrepublik verletzt hat,
- verpflichtet ist, weitere Verletzungen der Staatenimmunität der Bundesrepublik zu unterlassen.
Was bedeutet Staatenimmunität?
Die Staatenimmunität (auch als völkerrechtliche Immunität bezeichnet) besagt, dass kein Staat Gerichtsbarkeit über einen anderen Staat hat. Damit kann jeder Staat nur vor den eigenen Gerichten verklagt werden. Die Kläger hätten also in Deutschland Klagen anstrengen oder auf andere Weise ihre Ansprüche geltend machen müssen.
Würde man zulassen, dass ein Staat einen anderen zu irgendeiner Leistung verurteilt, würde dies eine Kaskade weiterer Klagen provozieren: Denn als nächstes könnten die Gerichte des verurteilten Staates den Klägern die Vollstreckung aus den Urteilen verbieten. Da sich alle Staaten auf Augenhöhe gegenüberstehen, gäbe es einander widersprechende Urteile, von denen keines den Vorrang für sich beanspruchen dürfte. Staaten können gegeneinander daher nur vor internationalen Gerichten klagen.
War das Urteil überraschend?
Nein, die Staatenimmunität ist allgemein anerkannt. Die einzige nicht völlig geklärte Rechtsfrage war diejenige, ob die Staatenimmunität auch bei schwersten Menschenrechtsverletzungen wie den hier vorliegenden Kriegsverbrechen Anwendung findet. Da bisher keine Durchbrechungen der völkerrechtlichen Immunität anerkannt waren, wurde aber auch nicht erwartet, dass dies in diesem Fall anders entschieden würde.
Wurden die begangenen Kriegsverbrechen bezweifelt?
Nein, zu keinem Zeitpunkt. Die Taten sind umfassend dokumentiert. Es ging lediglich um die Frage, vor welchen Gerichten Entschädigungen deswegen hätten eingeklagt werden müssen.
Bleiben die Opfer damit ohne Entschädigung?
Nicht unbedingt, es gab zum einen das Bundesentschädigungsgesetz, das NS-Opfer zumindest eine gewisse Kompensation zu Teil werden ließ. Dieses Gesetz hatte allerdings einen relativ engen Anwendungsbereich, Geiselerschießungen sind in der Regel nicht erfasst. Zum anderen wurden Entschädigungen zwischen den Staaten geregelt, z.B. durch ein Abkommen zwischen Deutschland und Italien aus dem Jahr 1963, das Leistungen in Höhe von 40 Mio. DM vorsah. Ob, wodurch und inwieweit einzelne Opfer tatsächlich Wiedergutmachung erfahren haben oder noch erfahren können, ist allerdings sehr unterschiedlich.
Hat das Gericht entschieden, dass die Bundesrepublik Deutschland kein Staat ist?
Nein, in keiner Weise. Teilweise wird im Internet behauptet, diese Feststellung stünde in dem Urteil. Davon gibt es aber keine Spur, die Frage stand überhaupt nicht zur Debatte und wurde mit keinem Wort aufgeworfen.
Vielmehr ist das Gericht selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Bundesrepublik ein Staat ist: Ansonsten hätte die Bundesrepublik schon gar nicht klagen können, da nur Staaten der Weg vor den IGH offen steht (Art. 34 Abs. 1 des IGH-Statuts). Und zudem war der tragende Gesichtspunkt des Urteils die Staatenimmunität der Bundesrepublik Deutschland; wäre Deutschland kein Staat, könnte seine Staatenimmunität auch nicht verletzt werden.
1 Gedanke zu „Internationaler Gerichtshof (IGH), Urteil vom 03.02.2012, No. 143“
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