BGH, Beschluss vom 22.10.2019, 4 StR 37/19

Ein Strafurteil besteht aus mehreren Teilen. Die wichtigsten, was die Feststellung der Schuldfrage angeht, sind der Tatbestand und die Beweiswürdigung:

  • Im Tatbestand schreibt das Gericht nieder, was seiner Ansicht nach im zugrunde liegenden Fall passiert ist.
  • In der Beweiswürdigung erklärt das Gericht, wie es zu dieser Ansicht gelangt ist, also was der Angeklagte gesagt hat, welchen Zeugen es geglaubt hat, welche Beweise vorgelegt wurden usw.

Daraus kann das Rechtsmittelgericht dann ableiten, ob das Gericht mit der erforderlichen Sorgfalt vorgegangen ist, ob die Beweiswürdigung schlüssig war und ob auch die rechtlichen Vorschriften korrekt auf den festgestellten Sachverhalt angewandt wurden.

Das Landgericht Kaiserslautern wollte das alles in einem umfangreichen Betrugsfall rund um Solarmodule besonders gut machen. Drei Jahre lang wurde an insgesamt 104 Sitzungstagen über einen einzelnen Betrug mit einem Schaden von immerhin deutlich über 10 Millionen Euro verhandelt. Am Schluss hielt das Gericht den Angeklagten für schuldig und verurteilte ihn zu fünf Jahren Gefängnis. Dieses Urteil begründete die Strafkammer auf 548 Seiten, davon 262 Seiten Sachverhaltsschilderung.

Die Revision der Angeklagten führte zur Aufhebung des Urteils durch den Bundesgerichtshof. Der BGH könne das Urteil gar nicht wirklich auf Fehler prüfen, da es angesichts des Umfangs überhaupt nicht möglich sei, die tragenden Argumente des Gedankengangs der Richter von unerheblichen Informationen zu unterscheiden. Dabei fand der BGH ungewöhnlich harte Worte, von denen einige hier zitiert werden sollen:

  • Die Urteilsgründe werden [den gesetzlichen Anforderungen] nicht im Ansatz gerecht. Sie offenbaren schwerwiegende handwerkliche Mängel.
  • Anhand der ausufernden Sachverhaltsdarstellung lässt sich diese rechtliche Wertung nicht nachvollziehen, da sich das Landgericht in der Mitteilung einer Fülle überflüssiger und für die Entscheidung gänzlich belangloser Einzelheiten verliert, weshalb die Identifikation der für den Schuldspruch maßgeblichen Tatsachen nicht mehr gelingt.
  • Die Sachverhaltsdarstellung krankt bereits an einem missglückten Aufbau, aus dem sich nicht erschließt, welche Tatsachen das Landgericht als Feststellungen zur Tat verstanden wissen will.
  • Beispielsweise werden in dem Abschnitt “weitere Feststellungen” unter der Unterüberschrift “weiteres geschäftliches Handeln, Versicherungen, Firmenpolitik, Marketing, Anpreisungen” der vom Angeklagten gegründeten Firmen von UA 163 bis UA 276 ausgesprochen kleinteilig Projekte des Angeklagten beschrieben (etwa der Vertragsschluss über die Errichtung eines stratosphärischen Luftschiffs in China, UA 163 ff.), zu eingestellten Verfahrensteilen (“Projekt T. “) Feststellungen getroffen und Firmenpräsentationsunterlagen dargestellt, ohne einen Bezug zum Schuldspruch herzustellen.
  • Die aus Sicht des Landgerichts für das ausgeurteilte Tatgeschehen notwendigen Tatsachen aus dem Konvolut des zweiten Abschnitts herauszufiltern und aus den beiden Feststellungsblöcken den den Schuldspruch tragenden Sachverhalt zusammenzustellen, ist nicht die Aufgabe des Senats.
  • Dem Verständnis und der Lesbarkeit des Urteils gänzlich abträglich ist zudem die den Fließtext zur Sachverhaltsdarstellung fortlaufend unterbrechende Fülle von insgesamt etwa 200 einkopierten Schriftstücken, Abbildungen u.a., deren Bedeutung für den Schuldspruch ebenfalls nicht erkennbar ist.
  • Insbesondere bleibt aufgrund der gewählten collageartig anmutenden Sachverhaltsdarstellung unklar, ob oder inwieweit die in die Sachverhaltsdarstellung einkopierten Schriftstücke ihrem Inhalt nach festgestellt sein sollen oder ob sie nur der Beweiswürdigung dienen. Die gebotene Trennung zwischen Feststellungen zur Tat und der Beweiswürdigung findet nicht statt.
  • Aufgrund dieser den gesetzlichen Anforderungen nicht gerecht werdenden, unklaren und ausufernden Sachverhaltsdarstellung hat sich das Landgericht zudem den Blick für Rechtsfragen verstellt, die – soweit dies dem Urteil entnommen werden kann – der Fall aufweist.
  • Das Urteil hielte daher auch unabhängig von den durchgreifenden Darstellungsmängeln sachlichrechtlicher Prüfung nicht stand.
  • Es ist bereits unklar, zwischen welchen Parteien der für den Eingehungsbetrug maßgebliche Vertrag geschlossen wurde. (…) Das Urteil verhält sich auch nicht dazu, auf welche Weise und mit welchem Inhalt ein Vertrag mit der M. AG zustande gekommen ist.
  • Dass sich trotz des Umfangs der Urteilsgründe zum Vorstellungsbild des vormals Mitangeklagten und Freigesprochenen bei Abschluss des Vertrags im Urteil keine Ausführungen finden und zudem die subjektive Tatseite des Angeklagten nur unzureichend gewürdigt wird, ist ersichtlich ebenfalls den dargelegten Subsumtionsmängeln bei der Darstellung des Sachverhalts geschuldet.
  • Gewerbsmäßigkeit setzt (…) eigennütziges Handeln und damit tätereigene Einnahmen voraus. (…) Auch dies ist dem Tatrichter aus dem Blick geraten.
  • Die strafschärfende Erwägung, die Geschädigte M. AG sei gerade durch das Handeln des Angeklagten in Insolvenz geraten, wird von den Feststellungen und der Beweiswürdigung nicht getragen. Insoweit lässt sich dem ansonsten ausufernden Urteil lediglich entnehmen, dass auf Antrag der Hausbank der M. AG das Insolvenzverfahren eröffnet wurde.

Nach der Aufhebung muss die Sache nun von einer anderen Strafkammer des Landgerichts Kaiserslautern neu verhandelt werden, vielleicht nicht wieder an 104 Tagen, aber einige Dutzend Termine werden es doch werden. Welche Kammer das nun ist, ergibt sich aus dem sogenannten Geschäftsverteilungsplan, der auch für solche eher seltenen Fälle genau bestimmt, wer nun zuständig ist. Man kann sich vorstellen, dass in Kaiserslautern jetzt jeder Richter hofft, dass dieser Kelch an ihm vorüber geht.

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