Bikas gegen Deutschland – Art. 6 Abs. 2 EMRK
Der Beschwerdeführer war in Deutschland wegen ungefähr 300 Sexualdelikten angeklagt, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckt haben sollen.
In der 17 Tage dauernden Hauptverhandlung kam das Landgericht zu der Überzeugung, dass vier dieser Straftaten hinsichtlich aller Umstände, Ort und Zeit nachgewiesen seien. 50 weitere Straftaten hätten sicher stattgefunden, die genauen Umstände ließen sich aber nicht mehr ermitteln. Hinsichtlich der übrigen Straftaten sei ein Tatnachweis nicht erbracht.
Gericht hat Gegenstand des Urteils eingeschränkt
Darum stellte das Gericht das Verfahren am letzten Hauptverhandlungstag wegen aller bis auf die erstgenannten vier Straftaten ein. Rechtsgrundlage war § 154 StPO, wonach eine Beschränkung der Verfolgung auf einzelne Taten möglich ist, wenn die übrigen keine wesentlich höhere Strafe erwarten lassen.
Wegen der vier verbliebenen Taten der besonders schweren Nötigung verurteilte das Gericht den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren. Als strafschärfend wurde gewertet, dass der Täter auch noch die 50 erwiesenen weiteren Taten begangen hatte, wegen derer das Verfahren ja eingestellt wurde.
Unschuldsvermutung aus Art. 6 Abs. 2 EMRK
Dies sah der Angeklagte als Verstoß gegen die Unschuldsvermutung aus Art. 6 Abs. 2 EMRK. Denn das Gericht ging von seiner Schuld aus, ohne diese festgestellt zu haben.
Nach Ansicht der EGMR schützt Art. 6 Abs. 2 EMRK davor, dass jemand als Täter einer Straftat behandelt wird, ohne dass er in einem ordentlichen Verfahren deswegen schuldig gesprochen wurde. Umgekehrt darf ein Angeklagter also als Täter angesehen werden, sobald seine Schuld rechtskräftig festgestellt wurde.
Schuld wurde festgestellt, aber prozessökonomisch abgehandelt
Hier war das Gericht nun der Überzeugung, dass der Angeklagte auch diese weiteren Taten begangen hatte. Diese Überzeugung hatte die Strafkammer nach 17 Hauptverhandlungstagen gewonnen, in der sich der Angeklagte gegen alle Vorwürfe vollumfänglich verteidigen konnte. Damit wäre es dem Gericht auch möglich gewesen, ihn wegen dieser 50 Taten zu verurteilen, also eine formelle Schuldfeststellung herbeizuführen. Hiervon wurde nur aus prozessökonomischen Gründen abgesehen. Insoweit hat der EGMR auch noch angemerkt, dass es grundsätzlich Sache des nationalen Rechts sei, welcher Grad an Gewissheit notwendig ist, um einen Schuldspruch zu rechtfertigen.
Zudem wurden die so festgestellten Taten auch gar nicht zur Festsetzung einzelner Strafen verwendet. Vielmehr wurden sie lediglich als Teil des Vorlebens des Angeklagten angesehen, sodass seine Tendenz dazu, eine Vielzahl von Sexualstraftaten zu begehen, strafschärfend berücksichtigt werden durfte.