EGMR, Urteil vom 30.03.2006, Nr. 9369/02

Ilie gegen Rumänien – Artikel 1 des vierten Zusatzprotokolls

EMRK-Zusatzprotokoll Nr. 4, Art. 1 besagt, dass niemand verhaftet werden darf, weil er eine vertragliche Verpflichtung (z.B. eine Kaufpreiszahlung) nicht erfüllen kann.

Das bedeutet aber nicht, dass er auch nicht wegen einer damit zusammenhängenden Straftat inhaftiert werden dürfte. Wer also jemanden betrogen hat, indem er zum Schein einen Vertrag eingegangen ist, den er nie erfüllen wollte, kann deswegen strafrechtlich verfolgt werden. Dies verstößt nicht gegen die EMRK.

EGMR, Urteil vom 13.02.2020, Nr. 8675/15, 8697/15

N.D. und N.T. gegen Spanien – Art. 4 des vierten Zusatzprotokolls

Die Antragsteller sind zusammen mit vielen anderen Migranten aus Afrika in die spanische Enklave Melilla eingedrungen. Der spanische Staat hat sei daraufhin alle aus seinem Territorium abgeschoben.

Der EGMR hatte zu klären, ob dies eine unerlaubte Kollektivausweisung darstelle. Dies hat er verneint, da das Recht der Staaten, ihre Grenzen zu schützen, allgemein anerkannt sei. Bei einer gemeinsamen illegalen Masseneinreise sei auch eine gemeinsame Massenausweisung zulässig. Wenn die Einwanderer ihr Recht auf individuelle Prüfung wahrnehmen wollten, müssten sie die offiziellen Einreisewege beschreiten.

EGMR, Urteil vom 30.01.2018, Nr. 23065/12

Enver Sahin gegen Türkei – Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 2 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK

Dem querschnittsgelähmten Kläger wurde ein Studium in seinem Heimatland Türkei verwehrt, da die Universitätsgebäude nicht behindertengerecht waren. Die Hochschule und die angerufenen Gerichte argumentierten, dass es der Verwaltung nicht zumutbar sei, für barrierefreien Zugang zu Hörsälen etc. zu sorgen.

Der EGMR entschied, dass dies das Diskriminierungsverbot der EMRK sowie das Recht auf Bildung verletzt. Die Gerichte hätten bei ihrer Abwägung die Menschenrechte des Klägers nicht hinreichend beachtet.

BGH, Urteil vom 22. Januar 2013, VIII ZR 329/11

Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 22. Januar 2013 durch den Vorsitzenden Richter Ball, die Richterin Dr. Milger, die Richter Dr. Achilles und Dr. Schneider sowie die Richterin Dr. Fetzer einstimmig beschlossen:

Die Revision des Klägers gegen das Urteil der 16. Zivilkammer des Landgerichts Hamburg vom 1. November 2011 wird zurückgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.

Gründe: Die Revision ist gemäß § 552a Satz 1 ZPO durch Beschluss zurückzuweisen, weil die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO) nicht vorliegen und das Rechtsmittel auch keine Aussicht auf Erfolg hat. Zur Begründung wird auf den Hinweisbeschluss des Senats vom 25. September 2012 Bezug genommen (§ 552a Satz 2, § 522 Abs. 2 Satz 2 und 3 ZPO). „BGH, Urteil vom 22. Januar 2013, VIII ZR 329/11“ weiterlesen

BayVGH, Beschluss vom 26.01.2021, Az. 20 NE 21.162 (Außerkraftsetzung 15-km-Beschränkung)

Mit dieser Entscheidung hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die „15-Kilometer-Beschränkung“, nach der man sich in Corona-„Hotspots“ nicht mehr als diese Distanz von seinem Wohnort entfernen durfte, vorläufig außer Kraft gesetzt.

Hier werden zunächst die tragenden Erwägungen des Gerichts im Volltext wiedergegeben, eine Besprechung erfolgt nach und nach.

Nach dem im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gründenden Bestimmtheitsgebot müssen normative Regelungen wie z.B. Rechtsverordnungen so gefasst sein, dass der Betroffene seine Normunterworfenheit und die Rechtslage so konkret erkennen kann, dass er sein Verhalten danach auszurichten vermag (BVerfG, B.v. 9.4.2003 – 1 BvL 1/01 – BVerfGE 108, 52). Die Anforderungen an die Normenklarheit sind dann erhöht, wenn die Unsicherheit bei der Beurteilung der Gesetzeslage die Betätigung von Grundrechten erschwert (vgl. BVerfG, B. v. 3. 11.1982 – 1 BvR 210/79 – BVerfGE 62, 169). Sieht eine Rechtsverordnung – wie hier § 28 Nr. 22 11. BayIfSMV – die Ahndung von Verstößen als Ordnungswidrigkeit vor, gilt hier ein strenger Maßstab (BayVGH, B. v. 28.7.2020 – 20 NE 20.1609 – BeckRS 2020, 17622). Unter dem Gesichtspunkt der Normenklarheit hinreichend bestimmt i.S.d Art. 103 Abs. 2 GG ist, wenn jedermann vorhersehen kann, welches Verhalten verboten ist (Remmert in Maunz/Dürig, GG, Stand August 2020, Art. 103 Abs. 2 Rn. 92).

Eine Rechtsnorm muss so formuliert sein, dass man als normaler Bürger zumindest im Groben weiß, was drin steht. Das gilt umso mehr, wenn – wie hier – damit in Grundrechte eingegriffen wird oder ein Verstoß gegen die Rechtsnorm mit einem Bußgeld geahndet werden kann.

„BayVGH, Beschluss vom 26.01.2021, Az. 20 NE 21.162 (Außerkraftsetzung 15-km-Beschränkung)“ weiterlesen

Landgericht Tübingen, Beschluss vom 20.02.2020, 5 T 38/20

]Das Landgericht Tübingen, insbesondere ein Richter der fünften Zivilkammer, ist bekannt für sehr bürgerfreundliche Rechtsanwendung im Bereich der Zwangsvollstreckung von Rundfunkbeiträgen. In einem bemerkenswerten Beschluss vom Februar diesen Jahres setzt er sich mit der Rechtsprechung in diesem Zusammenhang auseinander. Diese wollen wir daher hier im Volltext wiedergeben:

1. Auf die sofortige Beschwerde des Schuldners wird der Beschluss des Amtsgerichts Calw vom 24.01.2020, Az. 9 M 146/20, aufgehoben und die verfahrensgegenständliche Zwangsvollstreckungsmaßnahme eingestellt.

2. Die Gläubigerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde ist auch begründet.

I.

Zur Begründung kann zunächst auf die nachfolgend wiedergegebenen Gründe im Beschluss des LG Tübingen vom 29.8.2019, 5 T 192/19, Bezug genommen werden.

II.

In dieser Entscheidung vom 29.8.2019 ist auch ausgeführt:

„Landgericht Tübingen, Beschluss vom 20.02.2020, 5 T 38/20“ weiterlesen

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 14.07.1959, I C 170/56

Nur Volltext mit Leitsätzen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat sich in diesem Urteil auch zur Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Impfpflicht (damals gegen die Pocken) geäußert. Die entsprechenden Passagen sind unten fett markiert und wurden durch eingefügte Absätze strukturiert.

Leitsätze:

1. Der durch das Impfgesetz vom 8. 4. 1874 (RGBl. S. 31) angeordnete Impfzwang ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

2. Der Impfpflicht entspricht ein Recht des Bürgers auf Impfung.

3. § 2 Impfgesetz schließt die Berücksichtigung einer allgemeinen Gefährdung der Erstimpflinge von der Erreichung einer bestimmten Altersstufe an nicht aus.

4. Die Entscheidung des Impfarztes, ob eine Impfung vorzunehmen ist, darf nur von ärztlichen Erwägungen und nicht von einer Haftungsübernahme des gesetzlichen Vertreters des Impflings für etwaige Impfschäden abhängig gemacht werden.

Urteilsbegründung:

(Sachverhalt, Prozessgeschichte)

Die Beklagte (Kreisverwaltung des O.-Kreises) stellte im Jahr 1951 die damals zweieinhalbjährige Klägerin zu 1 von der Pockenschutzimpfung zurück und übersandte dem Kläger zu 2 – Vater der Klägerin zu 1 als gesetzlichem Vertreter – unter dem 20. 4. 1951 ein Zeugnis, nach dem sie gemäß den ministeriellen Bestimmungen vom 10. 5. 1950 aus gesundheitlichen Gründen von der Pockenschutzimpfung gänzlich befreit wurde.

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BGH, Beschluss vom 28.04.2020, Az. X ZR 60/19 (Zumutbarkeit des beA bei Patentanwälten)

Das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) ermöglicht die Übermittlung digitaler Schriftsätze in sicherer und prozessual korrekter Weise per Internet. Es stand und steht allerdings unter erheblicher Kritik, weil es erst mit deutlicher Verspätung an den Start ging und häufig nicht benutzbar ist.

Dies hat nun auch der BGH aufgegriffen. In einem Verfahren hatte ein Patentanwalt kurz vor Fristablauf den Schriftsatz gefaxt. Wegen einer Faxstörung ging das Schreiben aber – wie er selbst gemerkt hat – nicht vollständig beim Gericht ein.

Der Bundesgerichtshof hat daraufhin entschieden, dass er das Fristversäumnis nicht verschuldet hat. Denn kurz vor Fristablauf auch noch das störungsanfällige beA zu benutzen, wäre ihm nicht zumutbar gewesen:

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Urteilssammlung: Unterschrift oder Paraphe? (Teil 3)

Formgültige Unterschrift oder bloße Paraphe?
Formgültige Unterschrift oder bloße Paraphe?
In der immer wieder für Erheiterung sorgenden Frage, wie eine formgültige Unterschrift auszusehen hat (siehe hier und hier), gibt es zwei neue OLG-Entscheidungen, die ich im stets erhellenden Blog des Kollegen Dr. Burhoff gefunden habe.

Im Wesentlichen wird die bisherige Rechtsprechung bestätigt, wonach jedes individuelle Schriftzeichen als Unterschrift gilt, den man (auch mit gewisser Phantasie) als Namenszug erkennen kann.

Interessant ist aber, dass beide Gerichte auch auf die Frage abstellen, ob eine bloße Paraphe, die eben keine Unterschrift darstellen soll, aufgrund der äußeren Umstände nahe liegen könnte.

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EuGH, Beschluss vom 21.10.2014, Az. C-348/13

Auf Youtube veröffentlichte Videos können mit einem einfachen HTML-Code, den Youtube auch noch bereitstellt, auf Internetseite eingebunden werden („embedding“). Ein kleines Videofenster („Frame“) wird somit zum Teil der Seite, man muss sich also nicht auf Youtube durchklicken.

Gegen eine solche Verwendung seines Videos auf einer fremden Homepage hat sich der Urheberrechtsinhaber gewandt. Der Bundesgerichtshof legte diese Frage dem Europäischen Gerichtshof vor, um von diesem eine Vorabentscheidung über das anwendbare EU-Recht zu erhalten.

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