Urteilssammlung: Die Drei-Tages-Fiktion/-Vermutung

Im gesamten Verwaltungsrecht spielt die Drei-Tages-Fiktion bzw. Drei-Tages-Vermutung für den Zugang von Briefen eine erhebliche Rolle. Diese besagt, dass ein von einer Behörde zur Post gegebener Brief regelmäßig nach drei Tagen seinen Empfänger erreicht hat.

Es besteht also grundsätzlich eine Vermutung, dass ein nachweislich versandtes Schreiben am dritten Tag nach Versendung angekommen ist. Gleichzeitig verbleibt aber die Beweislast bei der Behörde, wenn es Zweifel daran gibt, dass ein bestimmter Brief tatsächlich an diesem Datum zugegangen ist. Sollte der Brief nachweislich früher angekommen sein, wird trotzdem so getan als sei er erst nach drei Tagen angekommen, insoweit besteht also eine echte Fiktion.

Eine derartige Regelung findet sich sowohl im allgemeinen Verwaltungsrecht des Bundes (§ 41 Abs. 2 VwVfG, § 4 Abs. 2 VwZG) als auch im Sozialrecht (§ 37 Abs. 2 SGB X) und im Steuerrecht (§ 122 Abs. 2 AO) sowie in den meisten entsprechenden Landesgesetzen.

Diese Urteilssammlung soll verschiedene Gerichtsentscheidungen darstellen, die sich mit der Anwendung dieser Regel beschäftigt haben.

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BGH, Beschluss vom 22.10.2019, 4 StR 37/19

Ein Strafurteil besteht aus mehreren Teilen. Die wichtigsten, was die Feststellung der Schuldfrage angeht, sind der Tatbestand und die Beweiswürdigung:

  • Im Tatbestand schreibt das Gericht nieder, was seiner Ansicht nach im zugrunde liegenden Fall passiert ist.
  • In der Beweiswürdigung erklärt das Gericht, wie es zu dieser Ansicht gelangt ist, also was der Angeklagte gesagt hat, welchen Zeugen es geglaubt hat, welche Beweise vorgelegt wurden usw.

Daraus kann das Rechtsmittelgericht dann ableiten, ob das Gericht mit der erforderlichen Sorgfalt vorgegangen ist, ob die Beweiswürdigung schlüssig war und ob auch die rechtlichen Vorschriften korrekt auf den festgestellten Sachverhalt angewandt wurden.

Das Landgericht Kaiserslautern wollte das alles in einem umfangreichen Betrugsfall rund um Solarmodule besonders gut machen. Drei Jahre lang wurde an insgesamt 104 Sitzungstagen über einen einzelnen Betrug mit einem Schaden von immerhin deutlich über 10 Millionen Euro verhandelt. Am Schluss hielt das Gericht den Angeklagten für schuldig und verurteilte ihn zu fünf Jahren Gefängnis. Dieses Urteil begründete die Strafkammer auf 548 Seiten, davon 262 Seiten Sachverhaltsschilderung.

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EGMR, Urteil vom 03.02.2011, Nr. 35637/03

Sporrer gegen Österreich – Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK

Das österreichische Recht benachteiligte uneheliche Väter hinsichtlich ihres Sorgerechts.
Das österreichische Recht benachteiligte uneheliche Väter hinsichtlich ihres Sorgerechts.
Das österreichische Familienrecht (ABGB) sah vor, dass das Sorgerecht für uneheliche Kinder grundsätzlich der Mutter alleine zustehe. Das gemeinsame Sorgerecht beider Elternteile war nur vorgesehen, wenn beide einen entsprechenden Antrag stellten. Gegen den Willen der Mutter konnte der Vater nur das alleinige Sorgerecht für sich beantragen, wenn die Erziehung durch die Mutter das Kindeswohl gefährden würde.

Der Kläger, Herr Sporrer, blieb deswegen vor österreichischen Gerichten mit seinem Antrag auf Einräumung des gemeinsamen Sorgerechts ohne Erfolg, da das Gesetz eindeutig war. Anders wäre es dagegen gewesen, wenn er mit der Kindsmutter verheiratet gewesen wäre oder sie bereits einvernehmlich das gemeinsame Sorgerecht vereinbart gehabt hätten.

Diskriminierung unehelicher Väter

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte musste daher prüfen, ob diese Regelung eine Diskriminierung (Art. 14 EMRK) oder eine Verletzung des Schutzes der Familie (Art. 8 EMRK) darstellte. Dazu führt das Gericht aus:

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EGMR, Urteil vom 22.06.2004, Nr. 31443/96

Broniowski gegen Polen – Art. 1 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Staatsgrenzen Polens neu festgelegt (sog. Westverschiebung Polens). Ehemals polnisches Gebiet lag nun in der Sowjetunion. Die polnischen Bürger, die dadurch ihr Eigentum verloren haben, wurden grundsätzlich entschädigt. Verschiedene Enteignete wurden hiervon jedoch nicht umfasst bzw. erhielten nur eine minimale Entschädigung.

Als die Klage eines Herrn Broniowski beim EGMR einging, stellte der Gerichtshof fest, dass es ungefähr 80.000 weitere Betroffene gäbe, von denen ca. 200 selbst geklagt hatten. Aus diesem Grunde entschied sich der EGMR dazu, ein sogenanntes Pilotverfahren durchzuführen:

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EGMR, Urteil vom 08.04.2004, Nr. 71503/01

Assanidze gegen Georgien – Art. 6 Abs. 1, Art. 5 Abs. 4, Art. 13 EMRK

Der Kläger war ein georgischer Politiker. Nachdem er wegen angeblicher Finanzdelikte zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden war, begnadigte ihn der georgische Staatspräsident. Trotzdem blieb er in Untersuchungshaft. Danach wurde er wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verurteilt, jedoch in zweiter Instanz freigesprochen.

Trotz mehrfacher Intervention der georgischen Regierung und des Parlaments behielt die zuständige Teilrepublik Adscharien ihn weiterhin in Haft.

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EGMR, Urteil vom 15.12.2009, Nr. 16012/06

Gurguchiani gegen Spanien – Art. 7 EMRK

Gefängnis oder Abschiebung - was ist schlimmer?
Gefängnis oder Abschiebung – was ist schlimmer?
Das spanische Strafrecht sah ursprünglich vor, dass verurteilte Ausländer bei Freiheitsstrafen bis zu sechs Jahren diese entweder verbüßen mussten oder abgeschoben werden konnten. In letzterem Falle konnte das Gericht ein Einreiseverbot von drei bis zu zehn Jahren festsetzen.

Diese Vorschrift wurde im Oktober 2003 dahingehend abgeändert, dass verurteile Ausländer in diesen Fällen immer abgeschoben werden mussten und ihnen ein Einreiseverbot von zehn Jahren aufzuerlegen war. Das Gericht hatte also keine Wahlmöglichkeit mehr und konnte die Dauer des Einreiseverbots auch nicht verringen.

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EGMR, Urteil vom 07.01.2010, Nr. 25965/04

Rantsev gegen Zypern und Russland – Art. 2, 3, 4 EMRK

Cabaret-Tänzerin oder ausgebeutete Zwangsprostituierte? In diesem Fall waren einige Tatsachen unklar.
Cabaret-Tänzerin oder ausgebeutete Zwangsprostituierte? In diesem Fall waren einige Tatsachen unklar.
Oxana Rantseva, die Tochter des späteren Klägers, kam aus Russland nach Zypern, um dort in einem Cabaret-Theater zu arbeiten. Hierfür wurde ihr ein Künstlervisum ausgestellt, aufgrund dessen sie von ihrem dortigen Arbeitgeber abhängig war. Nach nicht ganz geklärten Streitigkeiten dem Arbeitgeber und einem Kontakt mit der Polizei beging sie vermutlich unter erheblichem Alkoholeinfluss Selbstmord.

Der Vater der getöteten klagte daraufhin gegen Zypern und gegen Russland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

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EGMR, Urteil vom 26.07.2005, Nr. 73316/01

Siliadin gegen Frankreich – Art. 4 EMRK

Ausländische Gastarbeiter (hier aus Togo) werden in Europa häufig ausgebeutet. Die EMRK-Staaten sind verpflichtet, dies zu verhindern.
Ausländische Gastarbeiter (hier aus Togo) werden in Europa häufig ausgebeutet. Die EMRK-Staaten sind verpflichtet, dies zu verhindern.
Die Klägerin ist togolesische Staatsangehörige. Sie kam mit einer Bekannten („Mrs. D.“) aus Togo nach Paris, wo sie ihr im Haushalt helfen sollte, bis ihr Flugticket abbezahlt sei. Tatsächlich musste sie dauerhaft unbezahlt arbeiten, ihr Reisepass wurde ihr weggenommen. Später wurde sie an ein anderes Ehepaar „verliehen“, für das sie ebenfalls ohne Bezahlung ca. 100 Stunden pro Woche arbeitete.

Sie klagte nach ihrer Befreiung aus dieser Situation gegen den französischen Staat wegen Verletzung des Verbots von Sklaverei und Zwangsarbeit (Art. 4 EMRK). Dieser habe nicht die notwendigen Maßnahmen unternommen, um seine Bürger gegen derartige Ausbeutung zu schützen.

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EGMR, Urteil vom 16.07.2013, Nr. 73469/10

Nagla gegen Lettland – Art. 10 EMRK

Wer bedeutsame Informationen mitteilt, muss geschützt werden. Ansonsten würden diese Quellen für die Presse unerreichbar.
Wer bedeutsame Informationen mitteilt, muss geschützt werden. Ansonsten würden diese Quellen für die Presse unerreichbar.
Die Klägerin in diesem Fall ist eine lettische Journalisten, die über Datenschutzpannen im staatlichen Rechnungshof berichtete. Daraufhin wurde ihre Wohnung nach Daten und Beweismitteln durchsucht, um ihren Informanten im Rechnungshof zu identifizieren.

Sie reichte daraufhin Menschenrechtsbeschwerde ein, da sie ihre journalistische Freiheit aus Art. 10 EMRK verletzt sah.
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EGMR, Urteil vom 26.04.1979, Nr. 6538/74

The Sunday Times gegen Vereinigtes Königreich – Art. 10 EMRK

Die Contergan-Fälle waren auch in Großbritannien ein großes öffentliches Thema, über das die Presse intensiv berichtete.
Die Contergan-Fälle waren auch in Großbritannien ein großes öffentliches Thema, über das die Presse intensiv berichtete.
Die Contergan-Fälle sind hierzulande noch immer bekannt. Auch in anderen Ländern nahmen schwangere Frauen das Schlafmittel, was zu Missbildungen bei den ungeborenen Kindern führte. In Großbritannien gab es zahlreiche „thalidomide cases“, benannt nach dem chemischen Wirkstoff.

Die britische Zeitung Sunday Times berichtete über die Schadenersatzklagen der betroffenen Familien gegen das herstellende Unternehmen. Dabei veröffentlichte sie auch außergerichtliche Vergleiche zwischen den Klägern und der Beklagten.

Gericht verbot Berichterstattung über außergerichtliche Vergleiche

Daraufhin untersagte eines der zuständigen Gerichte der Zeitung die weitere Berichterstattung. Hiergegen klagte die Sunday Times vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen ihrer Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK).

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