EuGH, Beschluss vom 21.10.2014, Az. C-348/13

Auf Youtube veröffentlichte Videos können mit einem einfachen HTML-Code, den Youtube auch noch bereitstellt, auf Internetseite eingebunden werden („embedding“). Ein kleines Videofenster („Frame“) wird somit zum Teil der Seite, man muss sich also nicht auf Youtube durchklicken.

Gegen eine solche Verwendung seines Videos auf einer fremden Homepage hat sich der Urheberrechtsinhaber gewandt. Der Bundesgerichtshof legte diese Frage dem Europäischen Gerichtshof vor, um von diesem eine Vorabentscheidung über das anwendbare EU-Recht zu erhalten.

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EGMR, Urteil vom 30.01.2018, Nr. 23065/12

Enver Sahin gegen Türkei – Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 2 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK

Dem querschnittsgelähmten Kläger wurde ein Studium in seinem Heimatland Türkei verwehrt, da die Universitätsgebäude nicht behindertengerecht waren. Die Hochschule und die angerufenen Gerichte argumentierten, dass es der Verwaltung nicht zumutbar sei, für barrierefreien Zugang zu Hörsälen etc. zu sorgen.

Der EGMR entschied, dass dies das Diskriminierungsverbot der EMRK sowie das Recht auf Bildung verletzt. Die Gerichte hätten bei ihrer Abwägung die Menschenrechte des Klägers nicht hinreichend beachtet.

ECHR, Beschluss vom 15.11.2001, 48188/99

clause-192562_1920Die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert bestimmte Grundrechte, die die Grundrechte des Grundgesetzes ergänzen. Da die EMRK nicht Teil des Völkergewohnheitsrechts ist, steht sie nicht gemäß Art. 25 GG über den Bundesgesetzen, sondern ist mit diesen gleichrangig. Die Bundesgesetze sind aber im Lichte der EMRK-Grundrechte auszulegen, insoweit ergibt sich also kein Rangverhältnis, sondern vielmehr eine Beeinflussung der deutschen Gesetze durch die EMRK.

EMRK: Recht, sich selbst vor Gericht zu verteidigen

Von besonderer Bedeutung ist dabei Art. 6 EMRK, der das Recht auf ein faires Verfahren deutlich detaillierter regelt als das Grundgesetz. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK besagt:

Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:
sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen

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EuGH, Urteil vom 19.10.2016, C‑148/15 (Arzneimittel-Preisbindung)

diet-pills-1328804_640Die deutsche Preisbindung für Arzneimittel verstößt gegen Europäisches Recht, so der EuGH. Gesetzlich festgelegte, allgemein gleiche Preise seien kein geeignetes Mittel, um die Versorgung der Bevölkerung mit Medikamenten sicherzustellen.

Wettbewerbszentrale wollte Bonussystem verhindern

Eine Selbsthilfegruppe von Parkinson-Patienten hatte mit der Internetapotheke Doc Morris eine Kooperationsvereinbarung geschlossen, aufgrund derer sie an einem Bonussystem beim Bezug ihrer Medikamente über Doc Morris teilnehmen konnten. Darauf hat die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs, gemeinhin spöttisch als Abmahnverein bezeichnet, eine Unterlassungsklage gegen die Selbsthilfegruppe angestrengt, da die günstigere Versorgung mit Medikamenten der Preisbindung aus § 78 Abs. 1 des Arzneimittelgesetzes widerspreche.

In der Berufungsverhandlung legte das Oberlandesgericht den Fall dem Europäischen Gerichtshof vor, um einen möglichen Verstoß des Gesetzes gegen EU-Recht überprüfen zu lassen (sog. Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV).

apothecary-436723_640Verstoß gegen Verbot von Einfuhrbeschränkungen

Der EuGH entschied daraufhin Folgendes:

Die Preisbindung verstößt gegen Art. 34 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der statuiert:

Mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung sind zwischen den Mitgliedstaaten verboten.

Die Preisbindung stellt dabei eine „Maßnahme gleicher Wirkung“ dar, die ausländische Apotheken benachteiligt. Denn diese seien, um sich Marktanteile in Deutschland zu erobern, gerade auf einen Preiskampf angewiesen. Deutsche Apotheken dagegen hätten durch persönliche Beratung vor Ort einen Wettbewerbsvorteil. Dadurch, dass ausländische Apotheken dies nicht durch niedrigere Preise ausgleichen könnten, würde ihnen die Einfuhr von Medikamenten in das Bundesgebiet erschwert.

Preisbindung dient nicht Gesundheitsschutz

Diese Maßnahme ist aber auch nicht durch Art. 36 AEUV erlaubt:

Die Bestimmungen der Artikel 34 und 35 stehen Einfuhr-, Ausfuhr- und Durchfuhrverboten oder -beschränkungen nicht entgegen, die (…) zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen (…) gerechtfertigt sind.

Die Frage war also, ob die Preisbindung dem Gesundheitsschutz dient. Dies wäre dann der Fall, wenn die flächendeckende Versorgung mit Medikamenten nur durch festgelegte Preise aufrechtzuerhalten wäre. Das hat der EuGH aber wegen folgender Argumente verneint:

  • Unterschiedliche Preise würden es für Apotheken attraktiver machen, sich in Gegenden mit bisher wenig Konkurrenz niederzulassen, weil sie dort höhere Preise verlangen könnten.
  • Die Behauptung, ein kranker Mensch könne keine Preise vergleichen, sondern müsste ohnehin immer die nächste, möglicherweise teure Apotheke aufsuchen, sei zu allgemein und werde nicht ausreichend belegt.
  • Ein funktionierender, freier Markt und dadurch entstehende günstige Preise seien der Versorgung mit Medikamenten gerade zuträglich.

Damit ist die Preisbindung für Medikamente wohl Geschichte – wie die Politik darauf reagieren wird, bleibt abzuwarten. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) hat jedenfalls bereits ein allgemeines Verbot von Versandapotheken vorgeschlagen.

EuGH, 28.07.2016, C‑423/15

Der Europäische Gerichtshof (erste Kammer) hat am 28. Juli 2016 auf Vorlage des Bundesarbeitsgerichts entschieden, dass sogenannte AGG-Hopper keinen Schadenersatzanspruch wegen angeblicher Diskriminierung geltend machen können. Sie seien keine Bewerber im Sinne der Anti-Diskriminierungsrichtlinien der EU und handelten rechtsmissbräuchlich.

AGG-Hopper sind Personen, die das deutsche Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG, auch als Antidiskriminierungsgesetz) ausnutzen, indem sie sich für Stellen bewerben, die sie eigentlich gar nicht wollen. Werden sie nicht genommen, klagen sie auf Schadenersatz gemäß § 15 Abs. 2 AGG; formale Fehler in den Stellenanzeigen helfen ihnen beim Beweis der angeblichen Diskriminierung. Weil sie dies laufend versuchen, also sozusagen von Bewerbung zu Bewerbung „hüpfen“, bezeichnet man sie als AGG-Hopper. Eine (etwas) nettere Betitelung ist „Scheinbewerber“.

AGG setzt Europarecht um

Ob der Kläger im zu entscheidenden Fall ein AGG-Hopper ist, hat der EuGH nicht entschieden. Das musste er auch nicht, denn er ist nicht für Tatsachenfragen und auch für konkrete Rechtsfragen nur sehr indirekt da. Vielmehr muss das nationale Gericht eine abstrakte Rechtsfrage vorlegen, die der Gerichtshof dann im Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV beantwortet. Anschließend entscheidet das nationale Gericht anhand dieser Antwort den konkreten Fall.

Was hat der EuGH mit einem deutschen Gesetz zu tun? Da das deutsche AGG auch die EU-Richtlinien 2000/78/EG und 2006/54/EG umsetzt, muss es auch anhand dieser ausgelegt werden. Ob eine bestimmte Auslegung mit Europarecht vereinbar ist, entscheidet letztverbindlich der EuGH, dem die deutschen Gerichte europarechtliche Fragen vorlegen können, die sich für ihr Urteil stellen.

Die Fragen des Bundesarbeitsgerichts

Das BAG hat zwei Fragen vorgelegt:

  • Sind (die Antidiskriminierungs-Richtlinien) dahin gehend auszulegen, dass auch derjenige „Zugang zur Beschäftigung oder zu abhängiger Erwerbstätigkeit“ sucht, aus dessen Bewerbung hervorgeht, dass nicht eine Einstellung und Beschäftigung, sondern nur der Status als Bewerber erreicht werden soll, um Entschädigungsansprüche geltend machen zu können?
  • Kann eine Situation, in der der Status als Bewerber nicht im Hinblick auf eine Einstellung und Beschäftigung, sondern zwecks Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen erreicht wurde, nach Unionsrecht als Rechtsmissbrauch bewertet werden?

Zusammengefasst bedeuten diese Fragen: Kann auch derjenige behaupten, in diskriminierender Weise als Bewerber um eine Stelle abgelehnt worden zu sein, der gar nicht genommen werden wollte?

Die Argumente des Europäischen Gerichtshofs

Der EuGH hat diese Fragen ungewöhnlich pragmatisch beantwortet:

  • Das erste Argument ist, dass sich diese Richtlinien schon ihrem Titel nach um Arbeit, Beruf und Beschäftigung bzw. um den Zugang hierzu drehen. Wer also durch eine Bewerbung gar keine Arbeitsstelle erlangen wollte, ist in seinem Beruf nicht betroffen und kann keinen Schutz verlangen.
  • Außerdem ist einem solchen Bewerber überhaupt kein (materieller oder immaterieller) Schaden entstanden, der ihm zu ersetzen ist.
  • Und schließlich liegt ein Rechtsmissbrauch vor, der die Berufung auf Unionsrecht verbietet. Ein solcher muss objektive und subjektive Voraussetzungen erfüllen:
    • In objektiver Hinsicht muss das Ziel der Richtlinie verfehlt werden, obwohl sie vom Wortlaut her eigentlich anwendbar ist. Dies ist hier gegeben, da der Kläger in formeller Hinsicht Bewerber um eine Arbeitsstelle war; das Ziel des gleichen und benachteiligungsfreien Zugangs zum Arbeitsmarkt würde aber nicht erreicht, wenn man ihm einen Anspruch zubilligen würde.
    • Subjektiv muss der Kläger gerade die Absicht gehabt haben, sich einen missbräuchlichen Vorteil zu verschaffen. Hieraus kann aus seinen objektiven Handlungen geschlossen werden, ein wichtiges Indiz sei der „rein künstliche Charakter der fraglichen Handlungen“. Ob dies gegeben ist, ist wiederum reine Tatsachenfrage, deren Klärung zudem dem nationalen Prozessrecht obliegt.

Der Entscheidungstenor

Die endgültige Antwort des EuGH lautete somit:

Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen sind dahin auszulegen, dass eine Situation, in der eine Person mit ihrer Stellenbewerbung nicht die betreffende Stelle erhalten, sondern nur den formalen Status als Bewerber erlangen möchte, und zwar mit dem alleinigen Ziel, eine Entschädigung geltend zu machen, nicht unter den Begriff „Zugang zur Beschäftigung oder zu abhängiger Erwerbstätigkeit“ im Sinne dieser Bestimmungen fällt und, wenn die nach Unionsrecht erforderlichen Tatbestandsmerkmale vorliegen, als Rechtsmissbrauch bewertet werden kann.

Im Endeffekt bedeutet dies, dass AGG-Hopper ausgesprochen schlechte Karten haben werden. Denn zumindest der Rechtsmissbrauch dürfte ohne Weiteres bewiesen sein, wenn der Betroffene bereits häufiger geklagt hat. Bei einigen wenigen Ablehnungen mag dies noch Zufall sein. Aber wer sich permanent auf verschiedenste Stellen bewirbt und sich hinterher immer diskriminiert fühlt, wird schwerlich glaubhaft machen können, dass er gerade die prozessgegenständliche Bewerbung ernstgemeint hat.

Hinweise für Studenten und Referendare

Besonders klausurrelevant dürfte diese Entscheidung nicht werden. Der Sachverhalt müsste hier schon derart detaillierte Informationen in objektiver und subjektiver Hinsicht enthalten, dass jeder Bearbeiter merkt, worauf der Klausurersteller hinauswill. Denkbar wäre allenfalls noch, dass ein behaupteter Missbrauch gerade nicht nachweisbar ist; in diesem Fall müsste die Entscheidungserheblichkeit der Frage zumindest kurz (ggf. im Hilfsgutachten) aufgeworfen werden.

Für die mündliche Prüfung kann das Urteil aber eine gewisse Bedeutung haben. Dort werden gerne Entscheidungen thematisiert, die auch außerhalb der juristischen Welt einen gewissen Widerhall gefunden haben.

In Erinnerung sollte man sich aber auch rufen, dass der EuGH die Bedeutung des Rechtsmissbrauchs für das Europarecht neuerlich bestätigt hat. Wichtig ist dabei allerdings, dass man dies als allgemein anerkanntes Rechtsprinzip begreift und nicht etwa aus § 242 BGB herleitet. Dies wäre ein schwerer systematischer Fehler, da das Europarecht natürlich nicht anhand des nationalen Rechts ausgelegt werden darf.

EGMR (Große Kammer), Urteil vom 08.06.2006, 75529/01 (Sürmeli/Deutschland)

time-2980690_1920Das Sürmeli-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist zwar erst zehn Jahre alt, aber schon ein gewisser Klassiker, was sicherlich auch an der kuriosen Vorgeschichte des Urteils liegt. Heute hat es allenfalls noch rechtshistorische Bedeutung als eines der Urteile, das die Aufnahme von Rechtsbehelfen gegen eine überlange Verfahrensdauer in das deutsche Prozessrecht gebracht hat.

Worum ging es bei dem Urteil?

Der Kläger (Herr Sürmeli) hatte im Jahr 1982 auf dem Schulweg einen Unfall, aus dem er verschiedene Ansprüche herleitete. 1989 erhob er Klage gegen die Haftpflichtversicherung des Unfallgegners, da diese nicht alle Forderungen begleichen wollte. Dieses Verfahren war knapp 17 Jahre später, im Sommer 2006, noch immer nicht abgeschlossen.

Wie hat der EGMR entschieden?

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte war der Auffassung, dass hierin eine überlange Verfahrensdauer zu erblicken ist. Diese verstößt gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Europäischen Menschrechtskonvention (EMRK), die eine Verhandlung „innerhalb angemessener Frist“ vorsieht. Daran ändert sich auch dadurch nichts, dass einerseits umfangreiche medizinische Gutachten anzufertigen waren und andererseits der Kläger selbst durch legitime Prozesshandlungen (Klageänderungen, Aussetzung wegen außergerichtlicher Einigungsversuche, Befangenheitsanträge gegen Richter und Sachverständige) für Verzögerungen des Verfahrens gesorgt hat.

Zudem verstieß das deutsche Prozessrecht gegen Art. 13 der EMRK, da es keinen Rechtsbehelf gegen überlange Verfahren vorsah und damit das Recht auf eine wirksame Beschwerde verletzte. Weder die Verfassungsbeschwerde noch die Dienstaufsichtsbeschwerde sei eine solche wirksame Beschwerde, da durch diese der Richter trotzdem nicht zu einer schnelleren Entscheidung verpflichtet werden könne.

Anstelle der insgesamt geforderten ca. 20 Mio. Euro wurden dem Kläger aber nur 10.000 Euro sowie ca. 7000 Euro an Verfahrenskosten zugesprochen.

Hat der EGMR selbst wenigstens schnell entschieden?

Die Rügeeinreichung geschah Ende 1999, im Jahr 2004 wurde diese für zulässig erklärt, Ende 2005 gab es eine mündliche Verhandlung, im Juni 2006 ein Urteil – ob das „schnell“ ist, mag nun jeder selbst bewerten.

Welche Auswirkungen hatte das Sürmeli-Urteil?

Das Verfahren war eines derjenigen, das etwas Schwung in die Frage des Rechtsschutzes gegen Verfahrensverzögerungen gebracht hat. Am Ende der Diskussionen stand schließlich das „Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren“, das im Jahr 2011 verabschiedet wurde. Durch dieses wurden die §§ 198 bis 201 in das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) eingefügt, die einen Entschädigungsanspruch enthalten.

Als Voraussetzung für diesen Entschädigungsanspruch muss zunächst eine Verzögerungsrüge (§ 198 Abs. 3 GVG) erhoben werden. Dabei fordert einer der Beteiligten das Gericht auf, schneller zu arbeiten – es wird also nicht etwa die nächsthöhere Instanz angerufen. Dem Richter muss aber klar sein, dass damit zumindest im Raum steht, dass sein Verhalten in einem späteren Entschädigungsverfahren überprüft werden wird.

Diese Lösung wird als ausreichend verbindlicher Appell an den Richter verstanden, das Verfahren schneller voranzutreiben, gleichzeitig bleibt aber seine Unabhängigkeit gewahrt, da er von niemandem, auch nicht vom übergeordneten Gericht, dazu gezwungen werden kann.

Hat der EGMR entschieden, dass die Bundesrepublik kein Rechtsstaat ist?

Nein. Dies wird zwar immer wieder behauptet, geht aber am Kern des Urteils völlig vorbei.

Zum einen kommt der Begriff „Rechtsstaatlichkeit“, im englischsprachigen Original „rule of law“, im eigentlichen Urteilstext (also außerhalb von Zitaten der Beteiligten) nur ein einziges Mal vor und zwar in der Zusammenfassung eines früheren EGMR-Urteils, in dem eine allgemeine Sorge ausgedrückt wurde, dass Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit bestehen, wenn es keinen Rechtsbehelf gegen Verfahrensverzögerungen gibt.

Zum anderen sah der Gerichtshof es nicht einmal als notwendig an, Richtlinien für eine Verbesserung der Gesetze zu geben, da bereits ein Gesetzentwurf vorlag: „Das Gericht begrüßt diesen Entwurf (…) und ermutigt zu einer schnelle Verabschiedung eines Gesetzes mit den enthaltenen Vorschlägen. Daher hält das Gericht es für unnötig, irgendwelche allgemeine Maßnahmen auf Bundesebene zu bezeichnen, die für die Befolgung dieses Urteils gefordert werden könnten.“ So klingt ein Urteil nicht, wenn man dem verurteilten Staat gerade die Rechtsstaatlichkeit abgesprochen hat.

Das Gericht hat einen kleinen Teil dessen, was einen Rechtsstaat ausmacht, nämlich die Beschwerdemöglichkeit gegen eine Verfahrensverzögerung, im deutschen Recht für unzureichend empfunden. Dass Deutschland damit insgesamt kein Rechtsstaat wäre, wurde weder entschieden noch überhaupt debattiert.

Internationaler Gerichtshof (IGH), Urteil vom 03.02.2012, No. 143

Der Internationale Gerichtshof hat sich mit der Staatenimmunität der Bundesrepublik beschäftigt.
Der Internationale Gerichtshof hat sich mit der Staatenimmunität der Bundesrepublik beschäftigt.
Welches Gericht hat geurteilt?

Es handelte sich um den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag. Dieser wurde von den Vereinten Nationen eingesetzt, um Streitigkeiten zwischen Staaten zu verhandeln.

Teilweise wird das Urteil fälschlich dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zugeschrieben.

Hier das Urteil: www.icj-cij.org (Englisch)

Worum ging es bei dem Urteil?

Im Zweiten Weltkrieg wurden Kriegsverbrechen durch die deutsche Wehrmacht begangen, konkret Zivilisten als Vergeltung für Widerstand aus der Bevölkerung erschossen. Dabei ging es im Wesentlichen um zwei Fälle, nämlich in Civitella (Italien) und Distomo (Griechenland). Hierfür haben Angehörige der Getöteten Schadenersatzansprüche vor italienischen bzw. griechischen Gerichten eingeklagt und Recht bekommen. Zur Durchsetzung dieser Ansprüche wurde die Villa Vigoni, deutsches Eigentum am Comer See, beschlagnahmt. Die Bundesrepublik hat deswegen den italienischen Staat verklagt.

Was hat die Bundesrepublik denn mit dem Dritten Reich zu tun?

Die Völkerrechtswissenschaft geht davon aus, dass Bundesrepublik und Drittes Reich rechtlich identisch sind. Der deutsche Staat besteht demnach ununterbrochen seit 1867 mit der Gründung des Norddeutschen Bunds, der 1871 zum Deutschen Reich erweitert wurde. Alle späteren Regierungsformen (Weimarer Republik, NS-Diktatur) sind nur unterschiedliche Ausprägungen dieses Staates. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg ist das Deutsche Reich nicht untergegangen, sondern bestand ohne einheitliche Staatsgewalt zunächst als besetzter Staat, später als BRD und DDR fort. Seit der Wiedervereinigung gibt es nur noch ein Deutschland, das aber völkerrechtlich immer noch mit dem Deutschen Reich identisch ist. Daher muss die Bundesrepublik auch für alle Verpflichtungen des Deutschen Reichs einstehen.

Sollte man der Untergangstheorie folgen, für die wohl die besseren Argumente sprechen, die aber eine Mindermeinung darstellt, ist Deutschland 1945 untergegangen und die Bundesrepublik wurde 1949 als Nachfolgestaat gegründet, der nicht identisch mit dem Deutschen Reich ist, sondern nur dessen Rechtsnachfolger. Im Endeffekt ergäbe sich kein Unterschied, da auch im Wege der Rechtsnachfolge alle Verpflichtungen übergehen.

Was hat das Gericht entschieden?

Das Gericht hat entschieden, dass Italien

  1. durch die Zulassung von zivilrechtlichen Klagen gegen die Bundesrepublik deren Staatenimmunität verletzt hat,
  2. durch die Beschlagnahme der Villa Vigoni die Staatenimmunität der Bundesrepublik verletzt hat,
  3. durch die Vollstreckung der griechischen Urteile die Staatenimmunität der Bundesrepublik verletzt hat,
  4. verpflichtet ist, weitere Verletzungen der Staatenimmunität der Bundesrepublik zu unterlassen.

Was bedeutet Staatenimmunität?

Die Staatenimmunität (auch als völkerrechtliche Immunität bezeichnet) besagt, dass kein Staat Gerichtsbarkeit über einen anderen Staat hat. Damit kann jeder Staat nur vor den eigenen Gerichten verklagt werden. Die Kläger hätten also in Deutschland Klagen anstrengen oder auf andere Weise ihre Ansprüche geltend machen müssen.

Würde man zulassen, dass ein Staat einen anderen zu irgendeiner Leistung verurteilt, würde dies eine Kaskade weiterer Klagen provozieren: Denn als nächstes könnten die Gerichte des verurteilten Staates den Klägern die Vollstreckung aus den Urteilen verbieten. Da sich alle Staaten auf Augenhöhe gegenüberstehen, gäbe es einander widersprechende Urteile, von denen keines den Vorrang für sich beanspruchen dürfte. Staaten können gegeneinander daher nur vor internationalen Gerichten klagen.

War das Urteil überraschend?

Nein, die Staatenimmunität ist allgemein anerkannt. Die einzige nicht völlig geklärte Rechtsfrage war diejenige, ob die Staatenimmunität auch bei schwersten Menschenrechtsverletzungen wie den hier vorliegenden Kriegsverbrechen Anwendung findet. Da bisher keine Durchbrechungen der völkerrechtlichen Immunität anerkannt waren, wurde aber auch nicht erwartet, dass dies in diesem Fall anders entschieden würde.

Wurden die begangenen Kriegsverbrechen bezweifelt?

Nein, zu keinem Zeitpunkt. Die Taten sind umfassend dokumentiert. Es ging lediglich um die Frage, vor welchen Gerichten Entschädigungen deswegen hätten eingeklagt werden müssen.

Bleiben die Opfer damit ohne Entschädigung?

Nicht unbedingt, es gab zum einen das Bundesentschädigungsgesetz, das NS-Opfer zumindest eine gewisse Kompensation zu Teil werden ließ. Dieses Gesetz hatte allerdings einen relativ engen Anwendungsbereich, Geiselerschießungen sind in der Regel nicht erfasst. Zum anderen wurden Entschädigungen zwischen den Staaten geregelt, z.B. durch ein Abkommen zwischen Deutschland und Italien aus dem Jahr 1963, das Leistungen in Höhe von 40 Mio. DM vorsah. Ob, wodurch und inwieweit einzelne Opfer tatsächlich Wiedergutmachung erfahren haben oder noch erfahren können, ist allerdings sehr unterschiedlich.

Hat das Gericht entschieden, dass die Bundesrepublik Deutschland kein Staat ist?

Nein, in keiner Weise. Teilweise wird im Internet behauptet, diese Feststellung stünde in dem Urteil. Davon gibt es aber keine Spur, die Frage stand überhaupt nicht zur Debatte und wurde mit keinem Wort aufgeworfen.

Vielmehr ist das Gericht selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Bundesrepublik ein Staat ist: Ansonsten hätte die Bundesrepublik schon gar nicht klagen können, da nur Staaten der Weg vor den IGH offen steht (Art. 34 Abs. 1 des IGH-Statuts). Und zudem war der tragende Gesichtspunkt des Urteils die Staatenimmunität der Bundesrepublik Deutschland; wäre Deutschland kein Staat, könnte seine Staatenimmunität auch nicht verletzt werden.